Biografiearbeit ist Erinnerungsarbeit – es soll den Pflegenden helfen, individueller auf Heimbewohner eingehen zu können. In der Praxis erschöpft sie sich aber häufig im Ausfüllen von Formularen oder dem stumpfen Abfragen der Bewohner – wichtige Informationen gehen hierbei häufig verloren. Kurze, prägnante Informationen – „biografische Splitter“ – in der Pflegedokumentation können helfen, dass sich die Pflege verstärkt an der Lebensgeschichte der Bewohner orientiert.
Die Wichtigkeit biografischer Orientierung ist besonders für die Langzeitpflege unbestritten. Denn eine individuelle Pflege ist ohne Wissen aus der Vergangenheit des Bewohners nicht möglich. Gegenwärtiges Erleben und Verhalten resultiert oft aus früheren Erfahrungen – insbesondere bei Demenzkranken hilft biografisches Wissen, Reaktionen besser zu verstehen.
Die Biografieorientierung umfasst verschiedene Aspekte. Dazu gehört zum Beispiel das Wissen um wichtige Daten des Lebenslaufs. Noch wichtiger ist aber, die Bedeutungen der verschiedenen Ereignisse und Phasen im Lebenslauf für die Person kennenzulernen. Zudem ist erforderlich, dass die Pflegekraft über generatives Wissen verfügt, also etwa die wesentlichen zeitgeschichtlichen Ereignisse ab 1920, die für den Bewohner in seinem Leben von Bedeutung waren.
Eine biografische Orientierung kann sich ganz unterschiedlich darstellen, ist aber auf jeden Fall ist Bestandteil des Pflegeprozesses, in einer immer wieder ergänzten Anamnese im Verlauf des Kennenlernens. Der Begriff Erinnerungspflege knüpft daran an und lässt biografische Informationen konzeptionell lebendig werden. Dazu sind verschiedene Angebote vorstellbar: einmalig zur Einzelaktivierung oder zur Arbeit in der Gruppe, immer wiederkehrend oder als Event beziehungsweise Gestaltungselement der Einrichtung.
Biografiearbeit ist „in“ – wird trotzdem oft vernachlässigt
Im Pflegealltag erschöpft sich Biografiearbeit allzu oft im rudimentären Ausfüllen von Doku-Bögen oder im „Abfragen“ des Bewohners, weil die Prüfinstanzen dies verlangen. Das gewonnene Wissen wird für die täglichen Pflege aber oft nicht genutzt. Offenbar fehlt bisher eine breite Fundierung, warum Biografiearbeit in der Altenpflege wichtig ist, wie sie gestaltet werden kann, welche Grenzen vorhanden sind. Auch in den Pflegeausbildungen wird das Thema sehr unterschiedlich vermittelt. Laut Sirsch (2008) existieren hier völlig verschiedene Vorschläge. Auch die entsprechenden Lehrbücher bieten keine gemeinsame Orientierung.
Insgesamt ist Biografiearbeit „in“ – in einer älter werdenden Gesellschaft interessieren sich immer mehr Bürger für das Thema. Volkshochschulkurse, Web-Initiativen und eine Flut von Publikationen stützen diese Bewegung. Viele Berufsgruppen agieren in diesem Feld – zum Beispiel Sozialpädagogen, Gerontologen oder Psychotherapeuten. Für Pflegende ist Biografiearbeit in vielen Bereichen aber noch ein großes Fragezeichen. Umfang und Tiefe ist vielen unklar, über die erforderliche Qualifikation wird gestritten und auch der Umgang mit vertraulichen Daten bereitet vielen Pflegenden Schwierigkeiten.
Trotz all dieser Unklarheiten gibt es einen breiten Konsens hinsichtlich des Ziels biografischer Orientierung: das Kennenlernen des Bewohners, um im Rahmen der täglichen Aktivitäten entsprechende Angebote machen zu können. Um überhaupt ins Gespräch zu kommen und dem Bewohner Wertschätzung durch Interesse an seiner Person zu signalisieren, sollten positive Aspekte der Vergangenheit von der Pflegekraft aufgegriffen werden. Dass Menschen auch traurige Erinnerungen aktivieren, lässt sich nicht vermeiden. Damit umzugehen, müssen Pflegende lernen.
Offenkundig ist: Innerhalb von Projekten gelingt die Vertiefung der Biografiearbeit, aber eine Übernahme in den normalen Pflegealltag oder gar in eine grundsätzliche Haltung scheint in stationären Pflegeeinrichtungen die Ausnahme zu sein.
Die in der Praxis verwendeten Formulare erschweren die Biografiearbeit häufig. Häufig ist es ein „wildes Sammelsurium“ von einfachen Fragen – zum Beispiel geschmackliche Vorlieben – bis hin zu absolut intimen Details – beispielsweise Normvorstellungen in Bezug auf Sexualität. Bewegende Momente im Leben – bei alten Menschen häufig das Erleben von Krieg, Heimatlosigkeit, Hunger – sollen bei den Biografiebögen abgefragt und auf drei Zeilen festgehalten werden. Die Vordrucke werden den Angehörigen häufig mitgegeben und kommen dann meistens kaum ausgefüllt zurück. Manche Familien fragen sich, was diese Fragen eigentlich sollen – viele Verwandte wissen kaum etwas über das frühere Leben des alten Menschen. So schrumpft ein ganzes Leben auf wenige dürre Zeilen, als Interesse und Gewohnheit bleiben nur Fernsehgucken und Spazierengehen übrig.
Eine biografische Orientierung sollte verstanden werden als „gemeinsamer Weg“, als Entdeckungsprozess über viele Monate. Dabei muss immer wieder entschieden – und gegebenenfalls schriftlich festgehalten – werden, welche Tatsachen für das gesamte Team wichtig sind. Gerade auch im Bereich der Mobilisation spielt die biografische Orientierung eine wichtige Rolle. Denn Elemente aus der Vergangenheit können manchen Bewohnern einen Anreiz bieten, sich wieder zu bewegen. Auch wohnbereichsübergreifend können Bekanntschaften organisiert werden, wenn biografische Daten „passen“.
„Bunte Splitter“ lieferten neue Informationen
Im Rahmen einer Fortbildung im Caritas-Altenheim Marienstift in Dachau konnte die Biografiearbeit durch kleine Maßnahmen wiederbelebt und in die direkte Pflege zurückgeführt werden. Die an der Fortbildung teilnehmenden Pflegemitarbeiter waren sich einig, dass das Hauptziel der Biografiearbeit das Kennenlernen des Menschens ist. Den Pflegenden wurde aber schnell klar, dass die Daten aus früher ausgefüllten Bögen niemandem präsent und somit keine Hilfestellung zum Erreichen dieses Zieles sei – das Kennenlernen geschehe eher im Verlauf der Pflege. Wichtige Informationen gingen hier aber verloren, würden nicht weitergegeben beziehungsweise in der Dokumentation festgehalten.
Im Verlauf der Fortbildung wurden gemeinsam Beispiele für solche Informationen gesucht und geübt, diese stichwortartig zu formulieren – zum Beispiel „Italienfan“ oder „Hundefreund“. Als Eintragungsort wurden einfache farbige Zettel gewählt. Diese wurden der Pflegedokumentation beigefügt.
Nach wenigen Wochen befanden sich in der Dokumentation der Bewohner vielerlei Eintragungen als „bunte Splitter“. Diese Informationen wurden von den Pflegenden gerne gelesen und ergänzt, jeweils mit Datum und Kürzel. Darunter fanden sich auch ganz neue Einsichten und für die alltägliche Pflege wichtige Informationen, zum Beispiel dass eine völlig bewegungseingeschränkte Bewohnerin früher Bergsteigerin war. Oder dass ein anderer Bewohner sehr lange eine Imkerei betrieben hat.
Eine weitere Bewohnerin legte beim Baden immer großen Wert darauf, von den Pflegekräften nicht unbeaufsichtigt in der Wanne zurückgelassen zu werden. Zwar wurde dieser Wunsch respektiert, jedoch ohne das wertvolle Hintergrundwissen zu kennen. Erst im Rahmen der Sammlung biografischer Splitter wurde der Grund verstanden: Die Dame erlitt in jungen Jahren einen Badeunfall, bei dem sie beinahe ums Leben gekommen wäre. Dank dieses neu gewonnenen Wissens können die Pflegekräfte nun während des Badens reflektierter auf die Bewohnerin eingehen. Es steht nicht mehr die Körperpflege im Vordergrund, sondern das Gefühl von Verständnis, Sicherheit und Wohlbefinden.
Gerade im Beschützenden Wohnbereich ist die Erfassung biografischer Splitter von unschätzbarem Wert, da sich der Zugang zu Demenzkranken nur durch eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit herstellen lässt. Einen nicht unwesentlichen Pfeiler dieser Brücke können biografische Besonderheiten bilden. Dazu ein weiteres Praxisbeispiel: Ein an Demenz erkrankter Bewohner war früher Besitzer einer Bäckerei und fuhr seine Lieferungen mit Hilfe seines Bernhardiners aus. Er spannte den Hund vor eine kleine Kutsche und belieferte so seine Kunden. Die Dokumentation dieser originellen Idee hätte auf einem standardisierten Biografiebogen nirgendwo Platz gefunden. Durch die Darstellung auf einem bunten Ergänzungsblatt zur Biografie hat nun aber jeder Mitarbeiter des therapeutischen Teams die Möglichkeit, mittels dieser spezifischen Information mit dem Mann in ein Gespräch zu kommen. Auch eine Mitarbeiterin, die ab und zu ihren Hund mitbrachte, um hundebegeisterte Bewohner des Hauses zu besuchen, gewann erstaunlich schnell das Vertrauen des Mannes. Während er den Hund mit einer trockenen Semmel fütterte, erzählte er entspannt und befreit von seinen Sorgen und Ängsten
Einen ähnlich leichten Zugang bekamen weniger vertraute Mitarbeiter zu einem Bewohner, der recht früh an Demenz erkrankte. Unter seinen biografischen Splittern befand sich ein Eintrag, dass er immer viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit gelegt hat, vor allem in Bezug auf seinen BMW. Aus den Fenstern des Beschützenden Wohnbereichs konnte man auf den Parkplatz des Altenheims blicken, auf dem oft auch Autos der Marke BMW stehen. Bei dieser Gelegenheit ließ sich hervorragend über die neuesten Modelle fachsimpeln und in Katalogen von BMW blättern. Der verhältnismäßig junge Mann erfährt durch den „fachlichen“ Austausch Wertschätzung, Abwechslung und Anregung im Alltag.
Für eine ebenfalls an Demenz erkrankte Bewohnerin stellen Fotos die Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit her. Da ihr Vater Fotograf war, nahm die Kunst des Fotografierens schon im Kindheitsalter einen zentralen Stellenwert im Leben der Bewohnerin ein. Bei dieser Dame geht es nicht in erster Linie darum, bekannte Gegenden und Gesichter auf den Fotos zu erkennen, sondern um das Gespräch über das Foto an sich. Dieses Merkmal ist nur eines von vielen, das die Pflegekräfte für diese Frau neben dem standardisierten Biografiebogen erfasst haben.
Sehr interessant sind auch die biografischen Splitter eines erst vor kurzem eingetroffenen Mannes: Dessen Vater war Bühnen- und Maskenbildner bei einem bekannten Theater, ebenso seine Mutter, die als Friseurin dort angestellt war. Als kleiner Junge erlebte er das prätentiöse Leben bekannter Schauspieler der damaligen Zeit. Noch heute erzählt der Bewohner gerne die eine oder andere Anekdote aus dieser Epoche. Mit diesem Wissen konnten die Pflegekräfte und Therapeuten Kontakte zu anderen Theaterbegeisterten auf anderen Wohnbereichen herstellen. Es wurden Kontakte geknüpft und sozialer Isolation vorgebeugt.
Splitter helfen auch, Schnittstellen zu verbessern
Die biografischen Splitter bieten eine Prägnanz, mit der man aufgrund weniger Informationen ein überraschend scharfes Bild von dem betreffenden Menschen bekommt. Zumeist reicht es aus, die bunten Blätter aufzuschlagen und quer zu lesen, um auf ungezwungene, individuelle und in höchstem Maße professionelle Art und Weise mit den Menschen in Beziehung treten zu können.
Die Erfassung biografischer Splitter lohnt sich nicht nur in der stationären Altenhilfe, sondern uneingeschränkt in jeder Form der Arbeit mit alten Menschen. Jeder Mitarbeiter im pflegerischen und therapeutischen Team kann und soll sich an der Biografiearbeit beteiligen. Auf diese Weise stellen die biografischen Splitter nicht zuletzt eine Möglichkeit dar, Schnittstellen zu vernetzen und so die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen zu optimieren.
Gastbeitrag von http://www.station24.de/.
Literatur:
Holzem, D.(2010): Der biografische Anker in der Kitteltasche. In: Die Schwester Der Pfleger (7), 672-676
Kerkhoff, D.; Halbach, A. (2002): Biografische Arbeit. Vincentz
Schweitzer, P.; Bruce, E. (2010): Das Reminiszenz-Buch, Huber
Sitvast, J.; van Meijel, B.(2005): Brücke zwischen gestern und heute. Lebensbücher. In: Pflegezeitschrift 115 (9), 28-31
Sirsch, E (2005): Biografiearbeit in der stationären Altenpflege. Eine vergleichende Analyse deutschsprachiger Lehrbücher. Bachelorarbeit.Universität Witten/Herdecke, unter gleichem Titel: www.pflegewiki.de/wiki/Bachelorarbeit (Zugriff 16.03.2011)
Autorin:
Dr. Angelika Zegelin
Pflegewissenschaftlerin und Curriculum-Beauftragte im Institut für Pflegewissenschaft der Uni Witten/Herdecke
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